Feature – Wohnen in der Tankstelle

Foto: privat

„Ein Schaufenster in die Vergangenheit“

Alte Tankstellen haben Charme. Während neue Tankstellen in ihrer Architektur eher funktional ausgerichtet sind, waren Tankstellen der 1950er- und 1960er-Jahre noch echte Blickfänge – mit teils extravaganten Dächern. In Gießen hat ein Paar eine ehemalige „Caltex“-Tankstelle zu einem Wohntraum umgebaut.

Ein Besuch bei Michael Jung und Waldemar Petker-Jung fühlt sich an wie eine Zeitreise in die 1950er-Jahre – eine Ära, in der Deutschland sein Wirtschaftswunder erlebte und Tankstellen mit ihrem damals futuristischen Design Symbole für Aufbruch und Freiheit wurden. Doch die Tankstellen von damals, die aufgrund ihrer Architektur etwas Besonderes waren, verschwanden im Laufe der Jahrzehnte. Sie wurden abgerissen, umgebaut, gelegentlich noch in anderer Funktion weiterverwendet – oder mitunter unter Denkmalschutz gestellt oder gleich in Freilichtmuseen umgezogen.

Schlafzimmer im Kassenhäuschen

Der Architekt Michael Jung und sein Ehemann Waldemar Petker-Jung haben sich einen Traum erfüllt und vermutlich vielen Tankstellen-Nostalgikern einen großen Gefallen getan: In einem Projekt mit vielen Aufs und Abs haben sie eine denkmalgeschützte, ehemalige „Caltex“-Tankstelle in Gießen gekauft, vor dem Verfall gerettet und mit Liebe zum Detail und vor allem mit großem Respekt vor der architektonischen Leistung der Fünfzigerjahre in ein Zuhause verwandelt. Dort, wo einst der Sprit auf der Tankinsel floss, plätschert nun ein kleiner Springbrunnen mitsamt Wasserbecken vor sich hin. Dort, wo einst im Tankwarthäuschen abkassiert wurde, schläft heute das Paar. Das sei noch eine Übergangslösung, betonen sie, denn im Herbst 2024, als der Reporter die beiden in Gießen besucht, steht noch ein Anbau aus, in dem dann auch eines Tages das Schlafzimmer des Paares Platz finden soll. Das Tankwarthäuschen soll dann zum Büro werden. Schöner kann man eigentlich nicht arbeiten.

In Gießen bauten Michael Jung und Ehemann Waldemar Petker-Jung (rechts) eine ehemalige „Caltex“-Tankstelle zu ihrem Wohntraum um.
Foto: Dr. Tobias Romberg

Was Michael Jung und Waldemar Petker-Jung hier in Gießen in der ansonsten eher trostlosen Frankfurter Straße umgesetzt haben, ist ein ambitionierter Brückenschlag zwischen 1950er-Jahre und modernem Wohnen. Michael Jung, 44 Jahre alt, wuchs zwei Ortschaften entfernt auf. Die Tankstelle mit dem auffällig auskragenden, 13 Meter lange Dach sei damals schon jedem bekannt gewesen. Aber Tankstellen im Allgemeinen hätten Jung nicht zwingend interessiert. Er absolviert als junger Mann eine Schreinerlehre, möchte die Heimat dann eigentlich verlassen, studiert dann doch in Gießen: Architektur. Seit 15 Jahren führt er mit seiner Büropartnerin Yvonne Klemke ein eigenes Architektur- und Innenarchitekturbüro. „Wir machen kaum Neubauten, sondern viel an Bestand“, sagt Jung. So sei auch seine Affinität zu denkmalgeschützten Gebäuden entstanden. „Ich habe hier in Gießen eine alte Maschinenbaufirma umgebaut und in ein Restaurant und Hotel verwandelt“, so Jung. Das habe Spaß gemacht.  

Der Weg zur „Wohn-Tankstelle“

Vor etwa neun Jahren kam dann der Schlüsselmoment für Jung und die ehemalige „Caltex“-Tankstelle. Jung fuhr häufig an der Tankstelle vorbei, die stark in die Jahre gekommen war, viele verschiedene Besitzer hatte und dennoch aufgrund des außergewöhnlichen Daches, das Außengelände und Kassenhäuschen wie ein übergroßer Mantel schützt, ein echter Blickfang ist. Jung legte eine Vollbremsung hin. In diesem Moment musste ihm klargewesen sein, dass er in der Tankstelle eines Tages wohnen werde. „Ich bin nicht unbedingt der rationalste Mensch“, sagt Jung, der im Herbst 2024 in der Küche seiner Wohntankstelle sitzt. Dort, in der ehemaligen Wagen-Aufbereitungshalle, schnarcht eine 13-jährige Hündin monoton vor sich hin, ein großer Küchenblock erinnert an eine Fahrzeugform, später wird ein Catering-Service Utensilien in die großräumige Küche tragen. Ein großes Wohnzimmer, das in einer erst 1989 erschaffenen zweiten Halle, einer Reparaturwerkstatt, liegt, grenzt an. Die weißen Fliesen der ehemaligen Aufbereitungshalle sind im Wohnkonzept erhalten geblieben. Die Küche trägt diese Optik mit. Der Boden ist neu, aber auf alt getrimmt, im Stile eines Werkstattbodens. Jung erzählt, seine damalige Spontanität erklärend, dass er auch schon einmal ein Auto gekauft habe, obwohl er eigentlich geplant hatte, bei „Ikea“ zu stöbern. Ehemann Waldemar, 34 Jahre alt, promovierter Kieferorthopäde, rollt mit den Augen bei dieser Anekdote. Es sind genau diese Überraschungsmomente seines Partners, die wohl dazu geführt haben, dass die beiden nun zu der verschwindend kleinen Gruppe an Menschen in Deutschland zählen, die in einer „alten“ Tankstelle lebt.

Ein Bündel an Herausforderungen

Doch das Projekt war alles andere als leicht in der Umsetzung, es drohte phasenweise zu scheitern. Denn Arbeiten am Denkmal sind herausfordernd, zumal sich dann noch ein Faktor namens Erbbaupacht erschwerend hinzugesellte. Michael Jung und Partner Waldemar besitzen irgendwann – nach langen Verhandlungen, sogar mit der Shell, und aufwändigen Recherchen – das Gelände, ohne Gebäude. Doch der Eigentümer des Gebäudes, dessen Pachtvertrag ausläuft, beharrt darauf, dass ihm ein Vorkaufsrecht für das Grundstück hätte zustehen müssen. Der Fall wandert durch die Instanzen deutscher Gerichte, Jung und Partner sind frustriert und schauen sich schon beiläufig nach anderen Objekten um – doch dann verschwindet der Rechtsstreitgegner mir nichts, dir nichts eines Tages und meldet keine Besitzansprüche mehr an. „Ich kann mich noch daran erinnern“, sagt Jung: „Wir lagen damals beide mit Corona im Bett und konnten erst eine Woche später zur Tat schreiten.“ Alles, was dann folgt, geht überraschend schnell – und ist dennoch aufwändig Am 10. Januar 2023 beginnen die Arbeiten. Das offene Gelände sieht trist aus, der Asphalt wird abgetragen und auch ein Meter Erdschicht muss aufgrund von möglicher Gesundheitsgefährdungen auf Anraten des Regierungspräsidiums abgetragen werden. „Das war viel Arbeit, teuer und sah danach genau so aus, wie vorher, nämlich überwiegend braun“, erinnert sich Waldemar Petker-Jung.

Foto: Dr. Tobias Romberg

Doch die beiden kommen gut voran, im Frühjahr 2024 ziehen sie ein, mit provisorischem Schlafzimmer im Kassenhäuschen. Aber egal –sie wohnen nun in der Tankstelle, die 1957 nach den Plänen des Architekten Willy H. Weisensee für „Caltex“ erbaut wurde. Damals, so Jung, habe es auf diesem Abschnitt der Frankfurter Straße bereits drei Tankstellen auf 100 Metern gegeben. Aber das war den „Caltex“-Verantwortlichen egal, zumal Deutschland mitten in der Automobilisierung steckte. Weisensees Entwurf prägte das Straßenbild und hob sich deutlich von den anderen Tankstellen ab. Die „Caltex“-Stationen waren nicht nur für den Benzinverkauf gedacht – sie waren Statements des Zeitgeists und holten ein Stück des „American Way of Life“ nach Deutschland. Das sorgsam geformte Gebäude verkörperte für viele Menschen den Traum von Mobilität und Freiheit, eine Zukunftsvision, die an den Straßenrändern deutscher Städte lebendig wurde. Doch allzu lange firmierte die Gießener Tankstelle nicht unter dem eindrücklichen Stern-Logo von „Caltex“. 1969 übernahm „Chevron“, in den 1970er-Jahren wurde bereits der Tankstellenbetrieb eingestellt. Und in den Jahrzehnten danach gaben sich die Besitzer beziehungsweise Pächter buchstäblich die Klinke in die Hand. Zuletzt war es ein Automechaniker der hier seine Kunden bediente.

Sechsstellige Investition

Der Wohntraum des Paares ist heute von einer 1,70 Meter hohen Mauer umfasst. Das war erforderlich, denn die angrenzende Straße ist laut und der Garten zur Straße hinaus ausgerichtet. Der Garten ist für das Paar ein Highlight, mit viel Liebe zum Detail gestaltet. Michael Jung und Waldemar Petker-Jung wollten mit dem Projekt „ein Schaufenster in die Vergangenheit“ schaffen. Das ist ihnen gelungen.

Foto: privat

Sie haben einen hohen sechsstelligen Betrag investiert. Mit viel Akribie legten sie die alte Bausubstanz frei, entfernten Schichten alter Farbe und brachten das ursprüngliche, grün-weiße Farbkonzept der „Caltex“-Ära zurück. Mit Unterstützung eines Bauhistorikers und des Amtes für Denkmalschutz setzten sie jedes Detail möglichst originalgetreu um, von den Fliesen bis zu den Materialien.

Das ungewöhnliche Bauprojekt forderte das Paar immer wieder heraus. Technische und denkmalpflegerische Hürden tauchten auf, die sie dazu zwangen, sich tief in die Materie einzuarbeiten. Besonders die historischen Tore, die so besonders für das Gebäude sind, entpuppten sich als komplizierte Aufgabe: „Zwischenzeitlich habe ich gezweifelt, ob wir überhaupt einziehen würden“, erzählt Jung, der sich extra als Energieberater im Denkmalschutz hat fortbilden lassen, um besser gerüstet zu sein.

Wo der Denkmalschutz aufhörte

Der hinzugezogene Bauhistoriker stellte irgendwann zur großen Erleichterung aller fest, dass das Tor der ehemaligen Wagen-Aufbereitungshalle nicht mehr das Original ist. Warum ist das bedeutend? Aufgrund dieser Tatsache durfte es ersetzt und musste nicht mehr geschützt beziehungsweise erhalten und energetisch ertüchtigt werden. Jung und Partner haben dann die Tore, optisch und energetisch auf neuestem Stand, nachbauen lassen. Im Sommer sind die Tore immer offen.

Jeder Raum wurde von den beiden mit Bedacht umgestaltet, ohne den historischen Charakter zu verlieren. So gelingt es dem Paar, ein denkmalgeschütztes Bauwerk zu neuem Leben zu erwecken. Der Anbau soll bald folgen. Zudem planen die Besitzer ihre Küche mitsamt riesigem Raum drei bis vier Mal pro Jahr für Kochevents oder Ausstellungen freizugeben, dafür besuchte sie auch das Cateringunternehmen im Herbst bei meinem Besuch. Von all den ehemals 800 „Caltex“-Tankstellen hat in Deutschland nur ein Dutzend die Zeit überdauert, schrieb die Gießener Allgemeine. Und die Tankstelle von Michael Jung und Waldemar Petker-Jung ist die einzige erhaltene ihrer Art im Kreis Gießen. Die Besitzer werden dafür sorgen, dass dies auch noch lange so bleibt.

Text: Dr. Tobias Romberg Fotos: Sebastian Lulay; Privat; Dr. Tobias Romberg

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