
Mit dem Inkrafttreten der EU-Verordnung zur Alternative Fuels Infrastructure Regulation (AFIR) ändern sich die Anforderungen an die elektromobile Ladeinfrastruktur in Europa. Die Regulierung soll Elektromobilität grenzüberschreitend zuverlässiger, transparenter und nutzerfreundlicher machen. Bis Ende dieses Jahres müssen entlang der TEN-T-Hauptverkehrsachsen alle 60 Kilometer Ladepunkte mit mindestens 150 Kilowatt Leistung verfügbar sein. Beim Schwerlastverkehr sind 350 Kilowatt vorgesehen, die bis spätestens 2030 erreicht werden müssen. Ladeinfrastrukturbetreiber wie „Mer“, sogenannte Charge Point Operator (CPO), müssen daher strategische Entscheidungen überdenken, um den Regularien zu entsprechen.
Herausforderungen zwischen Regulierung und Realität
Die AFIR bringt für CPOs verschiedene Verpflichtungen mit sich, die auch bestehende Prozesse betreffen. Der Netzanschluss bleibt eine der größten Hürden. Im ländlichen Raum oder entlang von Autobahnen hängt der Aufbau leistungsstarker Ladepunkte stark von der Zusammenarbeit mit Netzbetreibern ab – ein Faktor, den CPOs nur begrenzt beeinflussen können und einer der größten Engpässe beim Ausbau von Ladeinfrastruktur.
Zusätzlich sind umfassende technologische Nachrüstungen für bestehende Standorte erforderlich. Offene Bezahlverfahren, transparente Preisinformationen und die Kompatibilität mit ISO 15118 müssen implementiert werden, was Ressourcen bindet und eine Neubewertung der Wirtschaftlichkeit bestehender Infrastrukturen erfordert.
Die rechtliche Fragmentierung verschärft die Situation. Die Harmonisierung der AFIR mit nationalem Recht, etwa der deutschen Ladesäulenverordnung oder den unterschiedlichen Fördermechanismen in Österreich und Deutschland, ist komplex und teilweise noch unklar. Auf technischer Ebene müssen neben einem stabilen Backend auch Echtzeitinformationen, Roaming-Transparenz und AFIR-konforme Reporting-Standards gewährleistet werden.
Chancen für etablierte Anbieter
Trotz der Herausforderungen eröffnet die AFIR auch Entwicklungs- und Positionierungschancen für Ladeinfrastrukturbetreiber. International aufgestellte CPOs können ihre Skalierungsvorteile durch bereits vorhandene ISO 15118-Strategien, Partner im Energiesektor und bestehende TEN-V-relevante Standorte nutzen und die Marktkonsolidierung mitgestalten.
Anbieter, die auf Plug & Charge, transparente Preise und einfache Bezahlprozesse setzen, können sich über das Kundenerlebnis differenzieren und Vertrauen schaffen. Förderprogramme wie KsNI (Klimaschonende Nutzfahrzeuge und Infrastruktur) in Deutschland oder die E-Mobilitätsstrategie in Österreich schaffen zusätzliche finanzielle Spielräume für den Ausbau AFIR-konformer Infrastruktur.
Das Segment des Schwerlastverkehrs gilt als Wachstumsmarkt. Die Ladeinfrastruktur wird regulatorisch priorisiert und CPOs, die frühzeitig in HPC-Standorte investieren, können sich eine First-Mover-Position sichern.
Über die Regulierung hinaus
Die AFIR adressiert zentrale Probleme des europäischen Lade-Ökosystems durch mehr Interoperabilität, Ad-hoc-Zahlungsmöglichkeiten und verpflichtende Daten- und Preistransparenz. Die EU-Verordnung hat jedoch Grenzen. Während der Schwerpunkt auf Hauptverkehrsachsen liegt, bleibt die Ladeinfrastruktur an Urlaubszielen, in Ferienanlagen oder auf Campingplätzen weitgehend ungeregelt. Dort entscheidet sich jedoch häufig, wie komfortabel länderübergreifende Elektromobilität wahrgenommen wird.
Für Ladeinfrastrukturbetreiber ergibt sich ein zusätzliches Handlungsfeld, das touristische Regionen stärker in die Mobilitätswende einbindet und neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnet.
Für CPOs wie „Mer“ bedeutet die AFIR kurzfristig steigenden Druck durch regulatorische Pflichten, langfristig aber auch die Chance, sich als Qualitätsanbieter mit zukunftssicherer Infrastruktur im europäischen Markt zu etablieren. Entscheidend wird sein, die Anforderungen nicht nur reaktiv umzusetzen, sondern sie proaktiv in die Produktentwicklung, Standortstrategie und Partnerpolitik einzubetten.
Text: Johannes Sell, Product Development Manager Public bei „Mer“